Hier ist ein Update der im eBook „HDMs Marketing- und PM-Praxis“ im apple bookstore veröffentlichten Fallstudie in mehreren Folgen.
Die Gervais Danone AG in München bringt Obstgarten 1978 unter der Dachmarke GERVAIS ins Kühlregal. Das Produkt ist mit seiner damals spektakulären Positionierung „Obstgarten von Gervais – den können Hausfrauen nicht selber machen“ im riesigen generischen Quarkmarkt von über 300.000 Tonnen jährlich sehr erfolgreich und wird bald Produkt des Jahres (Lebensmittel-Zeitung). Zum ersten Mal wird für ein Milchfrischprodukt nationale TV-Werbung ausgestrahlt.
Die Source of Business ist derjenige Quark-Anteil welcher von den Haushalten zur Zubereitung von kleinen Speisen, z. B. als Frühstück (Müsli), Dessert und für zwischendurch verbraucht wird.
Obwohl erfolgreich ist die französische Danone-Mutter, zu der auch die Marke Gervais gehört, mit dem in Deutschland entwickelten Produkt nie zufrieden. Hierzulande wählen wir bewusst GERVAIS als Dachmarke, sie ist seit Anbeginn mit Frischkäse-Produkten verbunden. Die Marke Danone ist traditionell das Dach für unsere Joghurt-Produkte. Sie sind auf eine starke Dachmarke angewiesen, da ihre Bezeichnungen eher beschreibend als eigenständig sind.
Nach HDMs Verantwortung für die Münchner Niederlassung bekommt Obstgarten von der Mutter in Paris anstelle von Gervais die Dachmarke DANONE verpasst. Man will sich dort auf eine Dachmarke konzentrieren. Dann, ein paar Jahre später wird dem ungeliebten Spross auch diese Dachmarke entzogen, Obstgarten wird zur eigenständigen Einzelmarke. In 2011/2012 wird sie schließlich an den Allgäuer Joghurt-Spezialisten und Wettbewerber EHRMANN verkauft. Er erweitert sein Joghurt-Sortiment um die locker-leichte Quarkspeise.
Besonders beachtenswert in der Entwicklung Obstgartens ist die immer wieder ausschweifende Sortenpolitik mit dem Ziel Absatz und Umsatz möglichst noch schneller zu steigern.
Derartige kurzfristige Marketingziele haben, unabhängig von allen üblichen Nachhaltigkeits-Beteuerungen, höchste aktuelle Relevanz. Auswüchse der Produkt- und Sortimentspolitik gibt es heute in so gut wie allen Branchen. Es ist scheinbar die einfachste und schnellste Methode zu wachsen.
Und tatsächlich, zumeist wird sich der Absatz einer guten und etablierten Marke durch die zusätzliche Sorte kurzfristig erhöhen. Dafür sorgt allein schon der Aufbau zusätzlicher Lagerbestände in den Handelskanälen. Und, Probierkäufe der Verbraucher sorgen für Abverkauf, oft forciert durch die spezifische werbliche Unterstützung der Neuheit.
Entscheidend ist letztlich jedoch eine nachhaltige Abverkaufssteigerung der gesamten Marke durch die neue Sorte. Folgende Faktoren können dem jedoch entgegen stehen:
- Distribution: Die Distributionskanäle sind angesichts der heute schon breiten Sortimente mit zunehmenden Sorten/Varietäten überfordert, z. B. reichen die Kühlregale oder Ausstellungsflächen im anbietenden Markt nicht aus; der Händler muss sich dann für die neue Sorte zu Lasten von schon eingeführten Sorten entscheiden. Welche Sorte hat in meinem Geschäft das größere Abverkaufspotenzial? Die Unterdrückung traditioneller und durchgesetzter Hauptsorten im beschränkt verfügbaren Kühlregal kann die Folge sein. Schon Unsicherheiten in der Einkaufspolitik („Wieviele Einheiten soll ich von welcher Sorte jetzt bestellen?“) können zu Absatzeinbußen der gesamten Produkt-Range führen.
- Endverbraucher: Je mehr Varietäten zu einem Produkt/einer Marke gehören, desto schwieriger wird die Entscheidung am Point of Purchase ob eine neue Sorte bei den Zielgruppen und -personen begehrt ist. Über Jahrzehnte hinweg repräsentieren bei Frischkäse und Joghurt die traditionellen Sorten Erdbeere, Kirsch und Heidelbeere den Löwenanteil des Sortiments. „Exoten“ sind meist nur für wenige Verbraucher nachhaltig begehrenswert und können allenfalls die Marke kurzfristig aktualisieren.
- Sorte vs. Marke: Und, je mehr sich die Aufmerksamkeit von Handel und Verbraucher auf einzelne Sorten konzentriert desto geringer wird die Bedeutung der Marke für die Kaufentscheidung. Im worst case fällt die Wahl auf den Wettbewerber mit einem überschaubarem Angebot allgemein beliebter Sorten.
Bei Obstgarten hat die vom Produkt-Management initiierte Sorteninflation vier Jahre nach der Einführung der Marke zu einer signifikanten Unterbrechung des bis dahin stetig hohen Wachstums geführt; erst nach der Bereinigung und Reduzierung des Sortiments (durch den neuen Produkt-Manager) wächst die Marke wieder.
Die falsche Sortenpolitik hat Konsequenzen für die Marke und das gesamte Unternehmen:
- Herstellkosten: Sie steigen wenn sich die Produktions- und Verpackungschargen neuer Sorten (Varietäten, Modelle …) unterhalb plausibler Rentabilitätskriterien bewegen; erforderlich werdende häufigere Umrüstungen der Produktions- und Verpackungsanlagen kommen erschwerend hinzu.
- Investitionen: Für zusätzliche neue Anlagen und Werkzeuge erhöhen sich die Investitionskosten. Sie können sich im Falle eines Flops nicht rentieren.
- Lagerhaltung: Im eigenen Unternehmen (wie auch in den Distributionswegen) ergeben sich bei einem immer breiteren Sortiment und geringerem Abverkauf pro Sorte zusätzliche Herausforderungen für den jeweils optimalen Lagerbestand. Fehleinschätzungen führen zu Lieferengpässen oder zu verderbender Ware. Aus dem Handel kommen höhere Retouren – bei Nahrungsmitteln mit begrenzten Haltbarkeiten für Produktqualität und Markenimage von großer Bedeutung.
Die hier und in den nächsten Folgen aufgezeigten Stationen von der Obstgarten-Einführung in 1978 bis zur Übernahme durch EHRMANN wurden dem eBook HDMs Marketing- und PM-Praxis (apple bookstore) entnommen.
Quelle: https://itunes.apple.com/de/artist/hans-dieter-maier/id639990785?mt=11
Fortsetzung (Folge 2) folgt