Stationen auf unserem Jakobsweg nach Spanien (VI)

Folge 6: Besuch bei Tartarin de Tarascon

Allerdings – mit einer solchen Behauptung wird man selbst zum Tartarin. Die Titelfigur von Alphonse Daudets „Die wunderbaren Abenteuer des Tartarin von Tarascon – Aventures prodigieuses de Tartarin de Tarascon“ wurde bereits zu seinen Lebzeiten (1840–1897) zum Inbegriff des Angebers. Zum Trost – man ist damit nicht allein denn „en France, tout le monde est un peu de Tarascon“.

Und Ödön von Horváth bezeichnet Tartarin in seinem Roman „Der ewige Spießer“ als französischen Oberbayern. Was soll uns das, die wir unter solchen Landsleuten eigentlich recht annehmbar leben, wohl sagen …?Daudets Roman lebt von der spöttischen Bewunderung für den Helden Tartarin. Er entwickelt ihn vom wackeren, kleinen Rentner zum Teufelskerl und eben dem unerschrockenen und unvergleichlichen Tartarin. Dabei ist der Maulheld, Aufschneider und Säbelrassler kaum je aus seiner Vaterstadt herausgekommen und erlebt seine Abenteuer ausschließlich als Fantasie. Wer sie als Lügengeschichten abtut: „ … der Südländer lügt nicht, er erliegt einer Täuschung.“

Daudet zeichnet Tartarin als Don Quijote und Sancho Pansa in einer Person – hin und her gerissen zwischen Abenteuerlust und wehleidiger Bequemlichkeit. Welch´ faszinierende und erstrebenswerte Mischung eines männlichen Charakters der noch so sein darf.

Cet homme, c’était Tartarin, Tartarin de Tarascon, l’intrépide, l’intrépide, le grand, l’incomparable Tartarin de Tarascon.

Daudets Volksbuch war an unserer Schule Pflichtlektüre. Und der bislang recht normale kleine Ort Tarascon im Midi wird zum bescheidenen aber lebenslangen Jungenziel, zumindest wenn man schon mal in der Gegend ist. Denn zum Schulausflug hat´s dahin nie gereicht. Württembergische Höhepunkte um die Schwäbische Alb waren per Rad oder Bus leichter erreichbar und haben auch ihren Zweck, welchen auch immer, erfüllt.

Umso erstrebenswerter und ergiebiger die Besuche jetzt. Damals zum ersten Mal zwar enttäuscht vom verschlafenen Ort in der brütend heißen Mittagszeit wo alle Südfranzosen beim Déjeuner zuhause sind! Erst recht angesichts des spektakulären Ablenkungspotenzials großartiger römischer und jüngerer Kulturdenkmäler drum herum in Avignon, Arles, Nîmes oder Montpellier und Co – heutzutage aber auf begeistender Wegsuche nach Inhalten, Authentischem, selbst nach den flankierenden Peanuts und höchst dankbar für die angenehme tarasconische Ruhe, selbst in der Mittagshitze, im Vergleich zu Beaucaire, dem Tor zu Tartarins großer Welt gleich jenseits der trennenden Pont über die Rhône.

Tarascon liegt recht bescheiden abseits der großen Caminos und Kulturstätten

Eines haben sicherlich alle unsere Besuche in Tartarins Tarascon gemein. Als übergreifende Klammer der einfache treffende Text. Eigener Besuch bei Tartarin hin, eigener Besuch her. Was könnte er letztlich ausrichten gegen diesen ersten Satz im ersten Kapitel Le jardin du baobab:

Afrikanischer Baobab (www.exotic-plants)

Ma première visite à Tartarin de Tarascon est restée dans ma vie comme une date inoubliable ; il y a douze ou quinze ans de cela, mais je m’en souviens mieux que d’hier.

… Du dehors, la maison n’avait l’air de rien. Jamais on ne se serait cru devant la demeure d’un héros. Mais quand on entrait, coquin de sort !… De la cave au grenier, tout le bâtiment avait l’air héroïque, même le jardin !…

… Enfin, devant le guéridon, un homme était assis, de quarante à quarante-cinq ans, petit, gros, trapu, rougeaud, en bras de chemise, avec des caleçons de flanelle, une forte barbe courte et des yeux flamboyants ; d’une main il tenait un livre, de l’autre il brandissait une énorme pipe à couvercle de fer, et, tout en lisant je ne sais quel formidable récit de chasseurs de chevelures, il faisait, en avançant sa lèvre inférieure, une moue terrible, qui donnait à sa brave figure de petit rentier tarasconnais ce même caractère de férocité bonasse qui régnait dans toute la maison.

Cet homme, c’était Tartarin, Tartarin de Tarascon, l’intrépide, l’intrépide, le grand, l’incomparable Tartarin de Tarascon.
Übersetzung:

Der erste Besuch, den ich Herrn Tartarin in Tarascon abstattete, war für mich ein Ereignis, das ich in meinem ganzen Leben nicht vergessen werde. Es sind seitdem zwölf bis fünfzehn Jahre vergangen, aber ich erinnere mich an alles noch so genau, als wäre es gestern gewesen.  … Von außen hatte das Haus also gar nichts so Absonderliches und Außergewöhnliches und nach diesem äußern Eindrucke würde man auch niemals auf die Vermutung gekommen sein, vor der Wohnung eines Helden zu stehen. Wenn man das Haus aber betrat – Himmel und die Welt! Wie sah es da aus! Vom Keller bis zum Boden hatte das ganze Gebäude etwas Großes, Mächtiges, Heroisches; sogar der Garten war davon angehaucht! …
Vor dem Tischchen endlich saß ein Mann von vierzig bis fünfzig Jahren; er war klein, dick, untersetzt; sein Gesicht strotzte von Gesundheit, sein Bart war kurz, aber stark, seine Augen glühten und blitzten. Er saß in Hemdsärmeln da und trug wollenes Unterzeug; in der einen Hand hielt er ein Buch, mit der andern schwang er eine ungeheuer große Pfeife mit eisernem Deckel; er las irgend eine höchst wundersame Jagdgeschichte, hatte die Unterlippe vorgeschoben und machte ein schreckliches Gesicht, was seiner unscheinbaren Figur eines kleinen tarasconischen Rentiers denselben Anstrich ungefährlicher Wildheit gab, der im ganzen Hause herrschte.
Dieser Mann war Tartarin! Tartarin von Tarascon, der unerschrockene, der große, der unvergleichliche Tartarin von Tarascon!

Quelle: Alphonse Daudet, Tartarin de Tarascon, Bibebook, Kindle-Version

Kleine Erinnerung zum diesmaligen Abschied:
La Mairie und das untrennbare Trio Held, Schöpfer, ewiger Fan

Flamingos und Pferde
sind die 
Vorboten unserer nächsten Stationen Sainte Marie de la Mer
und Camargue

Der spritzige und zu den Meeresfrüchten der Region passende Vin-du-Sable hat sein Anbauflächen beträchtlich ausdehnen können

 Wir wundern uns dass die Hundertschaften
für Touristen bereit stehender Pferde gemütlich in ihren Koppeln stehen und die Wasservögel weniger Scheu zeigen

Kein Wunder: In Sainte Marie ist am 24. und 25. Mai die große Zigeunerwallfahrt der Sinti und Roma. Gerne wären wir auch dabei gewesen, aber schon Kilometer vor dem Ort links und rechts von der Straße Auto an Auto. Wir fliehen. Und schließlich ruft ja Sète.

Aigues-Mortes auf unserem Camino ist außerhalb der französischen Ferienmonate Juli und August immer wieder ein Besuch wert.
Wir begnügen uns diesmal mit seinen Fleur de Sel Hügeln

Aigues-Mortes ist ursprünglich Hafenstadt, doch durch die Verlandung der Lagune entfernt sich das Meer. Heute liegt die Stadt 6 km entfernt. Zudem fällt 1481 die Provence an Frankreich und Marseille verdrängt die Stadt als französischer Mittelmeerhafen. Weinbau und Salinen übernehmen. Salz ist im Mittelalter als Konservierungsmittel begehrt. Die Monopolstellung Venedigs schwindet. Noch heute wird im Verlandungsgebiet intensiv Salz, vor allem die Marketingkreation Fleur de Sel  gewonnen.

Die nächste örtliche Camino-Folge ist eigentlich die zurück liegende Folge IV über Sète und seine Menschen (Folge V).

Diesem aktuellen „Roman-Blog“ zu Daudets Tartarin (VI) folgt eine Art „Kunst-Blog“ mit den beiden Camino-Stationen Collioure und Cadaqués (Folge VII).

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